Von am 29. März 2014

Erinnerungen einer Frau an den 1. April 1944

Heute ist der erste April. Ich stehe vor unserem Hause und blicke nach der Stadt. Es ist bald elf Uhr, die Glocken läuten. Wie jedes Jahr um diese Stunde erfasst mich eine eigenartige Stimmung. Sind es tatsächlich erst fünf Jahre her seit der Bombardierung? Wie war es doch damals? Sïenengeheul hatte uns das Herannahen von Flegern gemeldet und bald vernahm man über dem Kohlfirst das bekannte Gebrumm und aus der Gegend von Schlatt dumpfes Gerumpel. Es wird die Flab sein, dachten wir, und gleich darauf en deckten wir in grosser Hohe zwei n der Sonne glitzernde Fliegerstaffeln. -Richtung Langwiesen erglänzte ein Lichtsignal am Himmel, und fast im selben Moment erdröhnte die Luft von schweren Donnerschlägen und unheimlichem Pfeifen. In ein paar Sätzen waren wir im Schutzraum oben war die Hölle los. Gott sei Dank, wir waren alle beieinander und am Leben!

PDF DownloadSchaffhauser Nachrichten – Ausgabe vom 01.04.1949

Wie oft hatten wir uns vorzustellen versucht, mein Mann als Luftschutzoffizier, ich als Leiterin der Kriegsfürsorge, wie es sein würde, und was wir tun würden, wenn unsere Stadt wirklich bombardiert werden sollte. Nun war es damit ernst geworden. Hatte ich richtig disponiert, waren die Fürsorge- und Sanitätsstellen am rechten Ort, hatte ich meine Helfer genügend instruiert? In vielen Sitzungen mit den engsten Mitarbeitern hatten wir uns bemüht, unsere Organisation durchzudenken und möglichst einfach zu gestalten. Ein Trost war es mir, dass wir wirklich bereit waren.

Kurz nach dem Verschwinden der Flieger stand ich wieder vor dem Hause. Wie durch ein Wunder war es stehen geblieben. Zwar waren durch die nahen Einschläge fast alle Fensterscheiben zertrümmert, das Dach durchlöchert und Gipsdecken und Türen beschädigt worden, und der Garten war in eine Wüstenei verwandelt. Aber unter uns, gleich jenseits der Bahn, stand die Tuchfabrik in hellen Flammen, und in den Mühlenen brannte Haus an Haus. Auen das Vereinshaus und die Brunner’sche Villa brannten lichterloh. Wird man da noch Meister werden?, fragte ich mich bange.

«Lösch hinter dem Haus, es brennt im Gebüsch», rief mir mein Mann zu, «ich muss gehen!» Von nun an war von der Kriegfürsorge eine gewaltige Aufgabe in mehrwöchiger angestrengter Arbeit zu bewältigen. Unsere beiden grossen Fürsorgestellen Steig- und Rheinschule hatten befehlsgemäss sofort nach der Bombardierung ihre Arbelt aufgenommen. Bei der Steigschule musste erst abgeklärt werden, ob die bombardierte Steigkirche mit ihrem hohen Turm die Fürsorgestelle nicht durch Einsturz gefährden könnte. Die Rheinschule stand mitten unter brennenden Häusern. Als ich aber sah, wie gut und besonnen meine getreuen Helfer arbeiteten, war ich beruhigt und stolz auf sie. Beide Stellen waren bereit, als sich die Obdachlosen meldeten.

Unsere Zentralstelle war 40 Minuten nach der Bombardierung betriebsbereit, und von diesem Moment an war auf unserem Hauptbureau Tag und Nacht ein unaufhörliches Kommen und Gehen. Unsere weissen Plakate hatten den Geschädigten und der übrigen Bevölkerung gezeigt, wohin sie sich zu wenden hatten und dass eine Organisation zu helfen bereit war, und die auch helfen konnte. Am Abend waren alle Obdachlosen untergebracht, niemand musste frieren oder hungern. Bei der Bergung des geretteten Hausrates hatte die Kriegsfürsorge eifrig mitgeholfen.

Unser Telephon ging ununterbrochen. Unaufhörlich kamen Leute und fragten nach Verwandten und Bekannten, um die sie in Sorge waren. Hunderte von Telegrammen mussten durch Meldeläufer an die oft schwer auffindbaren Empfänger vertragen „werden. Das ganze Leid und aller Kummer einer bombardierten Stadt zog an uns vorüber. Gross war die Hilfsbereitschaft aller. Stadt und Land, jeder Einzelne half, wo er konnte, aus der ganzen Schweiz traf tatkräftige Hilfe ein. Kein anderer Gedanke hatte Platz. Dankbar gedenke ich meiner unermüdlichen Stellvertreterin, Frau Moser, und meiner nächsten Mitarbeiter Frau Meier-Schaad, Herr Schwaninger und Herr Demmerle.

Am Sonntag, nachts um 12 Uhr, ging ich nach Hause. Ich war todmüde und wollte ein paar Stunden schlafen. Es war heller Mondschein, gespenstig ragten die Zweige unserer grossen, durch eine Bombe herausgerissenen Kastanie, in die Luft. Wenn ich an Jene Nacht denke, so erinnere ich mich noch heute des scharfen Brandgeruches, der noch wochenlang aus dem «mottenden» Mühlenquartier aufstieg. Ich musste mein Velo vom Gartentor bis zur Haustüre tragen; denn der Weg war von zwei Bomben aufgerissen worden, der Garten schien in einen Steinbruch verwandelt. Ich öffnete die Haustür und suchte den Lichtschalter; wir hatten kein Licht. Beim Schein meiner Taschenlaterne wollte Ich ein Bad nehmen, die Badeeinrichtung funktionierte nicht. Also ins Bett. Doch auch hier war nicht gut sein: Schutt, Steine, Scherben.

So ist es also im Krieg, dachte ich, so geht es nun allen unsern Nachbarn rund um uns herum, seit Jahren Nacht für Nacht. Was sollte ich zu Hause? Mein Mann war nicht da und keines der Kinder. Ueberall roch es widerlich nach Rauch; wir hatten ja keine Scheiben. Das leere stille Haus wirkte trostlos und unerträglich nach all den Erlebnissen der verflossenen zwei Tagen. Ich hielt es nicht aus, setzte mich auf mein Velo und fuhr nach unserm Hauptbüro zurück.

Ein Teil der Stadt war ohne Gas; dadurch hatten wir die Aufgabe, die Betroffenen zu verpflegen. Sie wurden auf unsere Gaststätten verteilt. Viele der «Gaslosen» halfen sich aber selbst und schauten wie sie «kalt» zu wege kamen. In den ersten Tagen war zum Glück schönes, warmes Wetter, dann aber fing es an zu regnen. Der Wetterumschlag brachte mir Sorgen und eine schlaflose Nacht. Wie sollte das weiter gehen, noch hatten wir keine fahrbare Küche; ob wir wohl Notküchen einrichten wollten? So früh es ging erkundigte ich mich andern Tags auf dem Oberhaus. «Wann gibts wieder Gas?» «Sie werden sich freuen», gab man mir zur Antwort. «Ab 10 Uhr wird alles in Ordnung sein!» Welche Erleichterung, welche Freude über Dinge, die mir sonst fern standen.

Eine fröhliche Episode ist mir in Erinnerung geblieben. Ich ging wieder einmal nach Hause. Schon beim Eingang in die Parkstrasse sagte mir ein Soldat: «Sie können nicht durch, ein Blindgänger ist in der Nähe.» Doch meine Legitimationskarte verhalf mir bis vor unser Gartentor zu kommen. Dort aber stand wieder eine Wache: «Hier kann niemand herein, es hatte Scharen von Neugierigen in diesem Garten, da man so gut auf die Mühlenen sieht, nun haben wir sie glücklich draussen.»

«Lassen Sie mich bitte hinein, ich gehöre in dieses Haus.» — «Das kann jeder sagen», gab mir der Soldat zur Antwort. «Dann werde ich irgendwo über den Hag klettern.» — «Das», sagte er, «möchte ich Ihnen nicht raten, es braucht niemand hier herein zu gehen.» — Ich schaute mich um, und: «Hören Sie, dort sitzt ein Soldat und liest unsere Zeitung; wollen Sie bitte die Adresse lesen und mit meinem Ausweis vergleichen?» — «Ach so, wirklich»; das Tor öffnete sich, ich durfte eintreten.

Nach einiger Zeit mietete die Stadt das Hotel zum «Riesen», und es wurde eine Art Pension eingerichtet. Unsere Ausgebombten, die in verschiedenen Gasthäusern verpflegt worden waren, mussten zügeln, besonders einige Leute aus dem «Kreuz», denen es unter der Obhut und beim ausgezeichneten Essen von Frau Wanner gut gefiel, weigerten sich weg zu gehen. Ich wurde gewaltig «angesungen». Aber ich nahm es keinem übel. Der wirkliche Jammer kam bei unsern Obdachlosen erst etwa nach 14 Tagen. Nur zu begreiflich war es, dass die Reaktion kommen musste.

Es ging Wochen und Wochen, bis auch der letzte Helfer der Kriegsfürsorge nach Hause gehen konnte. Eine Unmenge von Kleinarbeit wurde geleistet. Eng arbeiteten wir mit der städtischen Fürsorge zusammen, besonders bei der Betreuung und Neuausstattung der Betroffenen, bis die weitere Fürsorge an die Stadt überging. Indessen ging uns die Arbeit noch lange Zeit nicht aus. Unsere Helfer waren immer noch bei der Verpflegung tätig, verschiedene halfen auf dem Luftschutzbüro aus.

Im Pfrundhaus betrieben wir eine Wäscherei; dort war auch für Badegelegenheit gesorgt. Wir suchten vermissten Hausrat und fanden solchen, der niemandem gehörte. Wir vermittelten Ferienaufenthalte, Unterkunftsmöglichkeiten. Wir organisierten neue Sanitätsposten mit dem nötigen Personal, sodass wir schliesslich deren 23 hatten; ausserdem mussten unsere Fürsorgestellen — eine war abgebrannt, eine andere bombardiert worden — wieder in Kriegsbereitschaft gebracht werden. Das Material musste kontrolliert und ergänzt werden, und so weiter, und so weiter

Wir alle denken heute noch mit einem Gefühl der Befriedigung an unsere Fürsorgetätigkeit zurück — Ueberall Im Schweizerlande war‘ die Kriegsfürsorge organisiert worden. Wir in Schaffhausen hatten uns zu bewähren und zu beweisen, dass dise Organisation der Zivilbevölkerung wirklich helfen konnte, dass sie eingesetz werden konnte und unentbehrlich war, wie Luftschutz, Feuerwehr oder Ortswehr.

Eines Tages war ich von meinem Vorgesetzten gefragt worden: «Sind Sie sicher, dass die Helfer der Krlegsfursorge kommen werden, wenn es ernst werden sollte?» Ich bejahte, ich war meiner Sache sicher. Und sie sind gekommen und haben sich alle restlos eingesetzt, keine Arbeit war ihnen zu viel oder zu unwichtig! Als später die vielen Flüchtlinge, die Rückwanderer kamen, immer waren die Fürsorger da, wenn wir sie brauchten.

Und nun stehe ich heute wieder auf unserer Terrasse und schaue hinunter ins Mühlenquartier. Wie glücklich sind wir doch in unserer Schweiz. Die Ruinen sind verschwunden, und helle, schöne neue Häuser schauen zu mir hinauf. Und nun steht auch Ihr. meine lieben Helfer, für einen Augenblick vor mir. Alle sind wir 5 Jahre älter, mancher der mithalf, ist nicht mehr da. Aus den Mädchen, den Buben, sind junge Leute geworden, die ich kaum mehr kenne. Allen möchte ich zurufen: «Habt nochmals Dank für alle Eure Hilfe, und sollten wir wieder gerufen werden, ich denke, wir würden wieder an die Arbeit gehen, für unsere Heimat, für unser liebes Schaffhausen.


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